Erwin Liedke, 40, freischaffender Kuenstler (geheimrat) und Produzent, von 1998 bis 2000 fuer das Entertainment engagierter Kuenstler im New Economy-Unternehmen ricardo.de, 2000-2002 Forschungsprojekt fuer online-Kommunikation und online-Strukturen, 2002 Vorsitz des Vereins "who's afraid of on. zur auspraegung von gerechtigkeiten durch online-systeme"

Im Gespraech mit Birte Kleine-Benne, am 17. Dezember 2002 in Hamburg.



BKB: Ich wuerde gern mit einem Bild beginnen: Ein Song, den ich die Tage hoerte, stellte die These auf, dass die Welt stillsteht. Wie nimmst Du das wahr? Dreht sie sich anders? Dreht sie sich gleich? Steht sie still? Wie ist Deine Wahrnehmnung?

EL: Hab' ich kein Gefuehl fuer. Ich kaempfe gerade mit einer anderen Vorstellung, die mir zwar intellektuell vertraut ist, an die ich mich aber immer wieder erinnern muss: das ist die Vorstellung - die seit Kopernikus oder Galileo Galilei nicht mehr in unseren Koepfen sein sollte - dass wir naemlich mit soetwas wie Sonnenuntergang und Sonnenuntergang leben. Faktisch ist es so, dass wir uns im heliozentrischen Weltbild von der Sonne weg- bzw. hindrehen. Der im taeglichen Sprachgebrauch nach wie vor bemuehte Sonnenaufgang und Sonnenuntergang findet de facto nicht statt. In jeder Zeitung liest man jedoch davon. Ich meine, dass man in den letzten Jahren, in den letzten 6 bis 7 Jahren spueren konnte, dass sich etwas veraendert, dass sich etwas veraendern kann. Im Moment weiss man nicht so genau, wo das eigentlich geblieben ist. Es ist von diesen Vibes - tituliert als Neue Oekonomie - nichts mehr zu spueren, sie lassen sich derzeit nirgendwo finden.

BKB: Du hast jetzt zwei Brueche gesetzt. Einerseits sprachst Du von Kopernikus, und wenn ich sage, die Welt dreht sich wie bisher, wuerde ich das bisher historisch auch an diesem Punkt ansetzen. Mir schien es in meinen theoretischen Auseinandersetzungen, dass sich in den 60ern, Ende der 60er etwas Elementares veraendert haben koennte. Ich meine auch, dass die Theorie zu der Zeit verschiedene Angebote machte, die das formulieren liessen. Ich habe selbst die Moeglichkeiten und die Veraenderungen erlebt, von denen du gerade sprachst. Aber momentan scheinen die reaktionaeren Kraefte ueberhand zu nehmen. Oder welche Wahrnehmung hast Du?

EL: Nein. Das deckt sich ziemlich deutlich mit meiner. Ich beobachte ein Hin- und Herschwingen in der Ausrichtung der Welt. Sei es soetwas wie die 68er, wo bestimmte Strukturen aufgebrochen wurden, aber aus der Perspektive der Menschen, die damals den Aufbruch gestartet haben, ueberhaupt nicht zufriedenstellend ist. Sondern, dass es dann wieder in eine andere Richtung ging und man heute ueber die 68er sagt, dass sie etabliert seien und sich in das System haben integrieren lassen. Die Frage ist aber, ob - egal aus welcher Perspektive betrachtend - man davon ausgehen kann, dass ein Postulat, das sich mit einer gesamten Stroemung verbinden laesst, den Anspruch haben kann, in die Tat umgesetzt zu werden. Eine andere Frage fuer mich ist, ob man als Einzelperson etwas in die Welt setzen darf und auch die Kraft hat, etwas in die Welt zu setzen, so dass sich daran ausgerichtet werden kann. Ich glaube, dass diese Vorstellung - an der Realitaet gemessen - baden gehen muss.

BKB: Das hoert sich fuer mich zunaechst diktatorisch an. Das einer etwas in die Welt setzt und sich alle danach richten...

EL: Es ging mir nicht um das Diktatorische, sondern um die Kraft des Einzelnen. Wenn der Einzelne eine Ueberzeugung hat und diese in die Welt traegt, ob das die Kraft haben kann, eine Weltausrichtung in eine andere Richtung zu treiben. Und das ist fuer mich die Frage, an der sich auch die 68er pruefen lassen muessen.

BKB: Ist Deine website geheimrat.com in diese Richtung zu verstehen, dass Du als Einzelner Maßgaben veroeffentlichst oder ist sie eher eine Grundlage fuer Dein eigenes Handeln?

EL: Kann ich nicht eindeutig beantworten. Es ist immer ein Zweifel ob der Positionierung. Geht man in diese Richtung? Geht man zu schnell voran? Ich bin im Moment sehr gierig auf einen dritten relaunch. Die Grundstruktur, die angelegt ist und die sich in den letzten 10 Monaten pruefen lassen musste, muss jetzt weiter gefuellt werden.

BKB: Ist die website Deine Form, ein Publikum anzusprechen? Was ist Deine website? Du hast eine Biografie als Kuenstler und bezeichnest sie ja auch als kuenstlerisches Projekt.

EL: Ja. Aber eher als kuenstlerischen Prozess. Ich sehe es nicht als etwas abgeschlossenes. Im Moment geht die Bewegung in die Tiefe. Die 12 angelegten Bilder muessen gefuellt werden, so dass sie die Dimension der Tiefe bekommen. Und darueber die Moeglichkeiten entstehen, partizipieren zu koennen. Staerker das bisher ausgesparte Interaktive einzubinden.

BKB: Warum war es ausgespart und warum willst Du es jetzt einbinden?

EL: Warum es ausgespart war, kann ich gar nicht sagen. Haeufig sind das sehr eigenwillige, zufaellige Entscheidungen. Und hat damit zu tun, woher man kommt, was in dem Moment der Fokus ist. Im ersten relaunch war es die Umsetzung von musikalisch strukturierenden Elementen. Im zweiten war es eine staerkere Ausformulierung, auch der Grafik, der Verbildlichung der verschiedenen Dimensionen. Und im dritten wird es die von vielen Seiten vermisste Interaktivitaet sein.

BKB: Fuer mich ist geheimrat.com eine Mischung aus Kampfansage, Protestblatt, aus Archivierung von eigenen Daten, Quellen und Zitaten, eine Grundlage fuer das eigene Handeln. Ist es eine Ansage, die Du anderen ueber Dich machst? Oder ist es auch eine Aufforderung an andere? Ist das womoeglich die Interaktivitaet? Wo ist die Schnittstelle zwischen der website und dem Besucher? Und Dir und Deinem Publikum? Du sprachst vorhin von dem Einzelnen und der Kraft seiner Thesen...

EL: Das ist ja insgesamt eine schraege Gesamtkonstellation, weil es einerseits durchaus ein Kunstprozess ist, eine network-Arbeit, es aber relativ zu Beginn der Formierung eine umfangreiche Markenanmeldung gab. Das bedeutete fuer mich auch ein Spannungsfeld. Dann hat es in diesem Jahr eine Sicherstellung der Seite gegeben, so dass man nur ueber eine Codierung die Seite aufsuchen kann. Seit dem sind die Besucherzahlen extrem zurueck gegangen sind. Mag es daran liegen, dass Menschen es ablehnen, weil es nicht open source ist, oder auch, dass sie Angst haben.

BKB: Du betrachtest den Rechner nicht als Hilfsinstrument, sondern Dein Rechner ist Dein Arbeitsumfeld, Dein Arbeitsfeld und bestimmt Deine Arbeits- und Lebensweise. Welche Veraenderungen sind dadurch eingetreten?

EL: Ich hab meinen Rechner lieb. Ich hab Verstaendnis, ich bin nicht so ungeduldig und gestatte ihm, Probleme zu haben.

BKB: Und wie ist es mit Dir?

EL: Ob ich mir gestatte, Probleme zu haben? Ich gestatte es mir viel zu wenig. Ich moechte mir mehr gestatten, Probleme zu haben, verzweifelt oder zoegerlich zu sein.

BKB: Sind das Befindlichkeiten, die eher moeglich sind, wenn man mit dem Rechner lebt?

EL: Die ungeklaerte Frage ist nachwievor die Frage einer finanziellen Basis. Durchaus zu Recht wird behauptet, dass noch nicht viele Unternehmen, die mit Kommunikation Handel betrieben haben, Geld verdient haben. Die Ursachen ist eine ungeklaerte, weitere Frage. Aber zumindest gibt es noch nicht so richtig die Vorbilder. Es gibt zwar Leute, die, weil sie rechtzeitig ihre Aktienpakete als Eigentuemer verkauft haben, sehr reich und wohlhabend geworden sind. Aber selbst die muessten mit dem Gefuehl leben, dass sie von etwas profitiert haben, was eigentlich keinen Wert hatte. In dem Sinne eine Unerfuellung. Es gibt nichts, was heute noch den Bestand hat, den es mal hatte.

BKB: Du kommst damit auf einen anderen Bereich zu sprechen: Du wurdest 1998 von einem New Economy-Unternehmen als Kuenstler angesprochen, Dich um den Bereich des Entertainments des Unternehmens zu kuemmern. Eine Kooperation eines Wirtschaftsunternehmens mit einem Kuenstler. Du hast ja nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass dieses Unternehmen relativ schnell sehr erfolgreich wurde.

EL: Wenn man meint, dass Entertainment einen entsprechenden Wert hat - ob als PR oder als Marketingtool, dann ist meine Person schon damit verbunden gewesen.

BKB: Ging es da um Aktionen nach aussen oder um kuenstlerische Kritik und Kreativitaet?

EL: Es war zumindest nie ausformulierter Bestandteil. Ich habe gerade vor ein paar Tagen meine zahlreichen Rechnungen aufgerufen und habe mir die Themen der Rechnungen angesehen. Da sind schon entsprechende Sachen formuliert. Aber inwieweit dies auch in den alltaeglichen Ablauf des Einzelnen im Unternehmen Einzug gehalten hat, das, meine ich, war eher begrenzt. Weil meine Taetigkeit auch ueberwiegend nach aussen gerichtet war. So war die Strategie des Unternehmens: den Entertainmentbereich fuer eine geschickte Aussenwendung nutzbar zu machen.

BKB: Was, meinst Du, interessierte dieses Wirtschaftsunternehmen an Deinen kuenstlerischen Kompetenzen? Auf welche Qualitaeten wollte man da zugreifen?

EL: Ich bin in der Lage, mich nicht daneben zu benehmen. Du erzaehltest mir, dass Harald Schmidt Gottschalk zugeschrieben hat, die Frechheit im TV salonfaehig gemacht zu haben. Und niemand wuerde behaupten, dass sich Thomas Gottschalk daneben benimmt. Meine persoenliche Art ist, mich nicht daneben zu benehmen, aber ich keinen unkritischen Weg gehe. Ich lasse mich ungern in Bahnen draengen. Auch wenn alle da lang laufen.

BKB: Bedeutet das im weiterfuehrenden Sinne, dass Du die New Economy nicht fuer tot glaubst?

EL: Nein. Ueberhaupt nicht. Ueberhaupt nicht. Ich habe es schon vor geraumer Zeit als die Windeljahre des Internets beschrieben, die wir hinter uns gebracht haben. Die Potentiale werden auf die verschiedensten Weisen gerade durchforstet. Man guckt und stoebert. Solche Phase, wie wir sie jetzt gerade haben, diese Insolvenzgeschichten bedeuten ja auch neue Transparenzen. Firmen, die Insolvenz anmelden, muessen gegenueber den Leuten, die sie verwalten, alle Karten auf den Tisch legen. Hosen runter. Und dann wird geguckt: Was ist an wertvollem da? Und das wird eingemeindet? Das wird dann als Strategie uebernommen. Die Geschichte ist: Hier habt ihr so ein Stueck, jetzt lauft mal vorweg, lauft mal, macht mal was damit. Als es dann sehr schnell ging, hieß es, oh jetzt muessen wir die Pferde zurueckholen. Nicht, dass uns alles aus dem Ruder laeuft.

BKB: Was hat es Deiner Ansicht nach an Wertvollem gegeben?

EL: Eine interessante Frage. Ich habe mich in der Zeit, in der ich in der New Economy involviert war, sehr zerrissen gefuehlt. Ich war nicht stabil, in mir ruhend. Aktiv 1998 bis 2000, dann habe ich ja eher forschend gearbeitet.

BKB: War diese Entwicklung fuer Dich seit jeher eine Blase? - Sie wird ja jetzt im Nachhinein als Blase bezeichnet. Eine Formulierung, auf die sich alle geeinigt haben, die Rezipienten, die Produzenten... - Wird es jetzt im Nachhinein zu einer Blase gemacht? Wurde es im Laufe der Zeit zu einer Blase, weil sich entsprechende Leute angedockt haben? Wo sind da Substanzen?

EL: Das sind ja immer sehr komplexe Systeme, in denen monokausale Schuldzuweisungen immer eher eine Offenbarung desjenigen darstellt, der diese Schuldzuweisungen ausspricht. Die hergestellte Verbindung zwischen New Economy und grosser Blase passt nicht zusammen.Ganz deutlich. In dem ganzen Prozess, wie es zu einem Boersengang kommt, ist nicht das Unternehmen der entscheidende Faktor. Das Unternehmen bietet eine Konzeption an. Dann gibt es aber Leute, die sagen: Ihr wollt was machen und ihr wollt Geld haben? Dann geben wir euch dieses und jenes, aber dann muesst ihr Kompromisse eingehen. Dann gibt es einen Aufsichtsrat, da sitzen bestimmte Leute der Geldgeber drin. Es gibt also entsprechende Netzwerke, die dafuer sorgen, dass der Handlungsspielraum des Unternehmens ueberschaubar ist. Vostandsvorsitzender eines Unternehmens ist keine dankbare Aufgabe - schon gar nicht in der Zeit der New Economy. Das ist ja auch haeufig genug besprochen worden. Das Unternehmen, das einen Boersengang macht, profitiert nur ein einziges Mal, naemlich zu dem Zeitpunkt des Boersenganges.

BKB: Nochmal zurueck zur Blase. Unternehmen sind nicht allein verantwortlich, also vernetzt mit den Interessen z.B. der Venture Capital-Firmen...

EL: Die Zuordnung Blase - New Economy muss aufgeloest werden. Andere wuesten Behauptungen haben ebenfalls mit der Realitaet nichts zu tun. Wenn Baenker oder Boersenversierte behaupten, dass da Unmengen von Geld verbrannt sei, dann verdienen sie nichts weiter als eine Abmahnung fuer solch dreiste Verdummung. An Boersen kann kein Geld verbrennen, es wandert. Wenn man dann sagt, ok, wir haben eine Situation, die wir wohl alle falsch eingeschaetzt haben - dann kann daraus durchaus wertvolles entstehen. Dann kann man nach den Fehlern und Schwachstellen suchen und gucken, was man anders machen kann. Aber dann die Keule rauszuholen und auf die Vorstaende der Firmen und die Unternehmen selbst zu schlagen, ist sehr einfach. Was da Blase war, laesst sich mit einem einzigen Begriff bezeichnen: naemlich Gier. Die Blase war eine Gier nach Veraenderung. Wir wollen was anderes. Wir haben das Gefuehl, hier koennte es sein. Und das drueckt sich in der Blase am besten aus. Wir wollen was anderes. Wir wollen nicht mehr den alten Salat. Hier scheint eine Chance zu sein, die ja auch von einer breiten Oeffentlichkeit getragen wurde, und von den Medien... Wir streiten dafuer und gucken mal, was das Ergebnis sein wird.

BKB: Versteh ich Dich richtig, dass Du Blase in dem Moment anders konnotierst, naemlich in dem Sinne, dass alle auf einer Wolke getragen in eine andere Richtung gehen wollten. Blase nicht in Sinne von Leerraum, substanz- und wertlos, eher getragen von einem Wunsch, einer Gier nach Veraenderung.

EL: Es ist nur unvollstaendig beschrieben, dass nach dem Platzen der Blase nichts mehr da sei. Das stimmt ja nicht. Nur die aeussere Huelle hat sich aufgeloest. Und was in der Blase war, entfaltet sich und geht bestimmte Wege. Ich behaupte und bin ueberzeugt, dass wir nur die Windeljahre erlebt haben. Es wurde viel gekackt und geschissen. Und alles wird weggeschmissen - in den Muelleimer, Deckel drauf und zu. Es ist die Frage, ob das der richtige Umgang ist. Und jetzt ist eine sicherlich noch einige Zeit anhaltende Gegenbewegung zu beobachten, die auch durchaus noch reaktionaerer werden kann - man sieht es ja im gesamten Weltzusammenhang... Ein Versuch des Zurueckdraengens.

Teil 2