BKB: Doch nochmal die Frage: Womit kann man gegen die reaktionaere Rezeption der New Economy und die anhaltende Haeme antreten? Was ist die Substanz und was sind die Werte?

EL: Man muss sich dann mal an die Aufarbeitung ran machen, denn die hat nicht stattgefunden. Man muss sich dann auch was gefallen lassen - fuer die meisten Menschen eine sehr schwierige Aufgaben. Die ganzen Schlagworte der New Economy, die rauf und runter gepredigt wurden, muessen in dieser Phase ruhig und gelassen angeguckt werden, um dann eine neue Position einzugehen und etwas neu zu gruenden. Und um z.B. zu erkennen, dass ein blindes Einlassen auf Geldgeber das Toerichste und Unverantwortlichste ist, was man machen kann. Wie viele Menschen Geld reingepumpt haben, die keine Vorstellung hatten und sich selbst geblendet haben und auch geblendet wurden von gesamten Bewegungen und Euphorien. Und dann entstehen solche Geschichten. Aber ich glaube auch, dass das Potential von Online-Strukturen, da spreche ich bewusst nicht von New-Economy-Strukturen, noch gar nicht ansatzweise angetastet ist.

BKB: Mit welchen Argumenten wuerdest Du denn jemanden vom Sinn solcher neuen Modelle ueberzeugen?

EL: Guck Dir doch an, was alles Scheisse funktioniert. Man sollte und muss nach Moeglichkeiten suchen, zu veraendern, zu einem Sinnvollerem zu treiben.

BKB: Ist womoeglich nicht das Netz in den Windeljahren, sondern ist es denkbar, dass es Ende der 60er eine Zaesur gab und die letzten 30, 40 Jahre die Windeljahre einer neuen Epoche waren? Denn es ging ja nicht nur um Oekonomie, sondern alles war z.B. mit Moral und Ethik verwoben. Ich erinnere an soetwas wie flache Hierarchien.

EL: Das Interessante war ja, dass man das auf dem Wirtschaftsfeld ausprobierte. Dass man da scheinbar in einem Kontext, der ueberhaupt nicht innovativ ist, neue Strukturen ausprobierte. Dann hat sich aber auch gezeigt, dass aufgrund dieser flachen Hierarchien bestimmt andere Hierarchien auch nicht mehr zu halten waren. Und dann ist da die Frage, wie man damit umgeht. Allein die Situation in einem Gericht. Da gibt es jemanden, der qua der konstituierten Struktur erhoeht sitzt, einen Deckel traegt. Eine Art Comedy Veranstaltung. Es hat eigentlich nichts mit einer gleichen Augenhoehe zu tun.

BKB: Wofuer ist die wichig?

EL: Die Augenhoehe ist wichtig fuer eine Auseinandersetzung, fuer ein wertvolles Weiterbringen, dass man sich eins zu eins mit demjenigen auseinandersetzt, mit dem man im Konflikt steht. Das ist ja ein ganz interessanter Ansatz bei AVL-Ville, dass es dort eine Regel gab, die aufgetretenen Probleme zwischen den beteiligten und betroffenen Parteien zu loesen. Und diese Form der Auseinandersetzung findet in gerichtlichen Zusammenhaengen nicht statt. Da sitzt jemand, der sich Informationen einholt, ueber jemanden entscheidet, ueber jemanden richtet, ein Urteil spricht. Es ist die Frage, ob dass zeitgemaess ist.

BKB: Wie loest Du fuer Dich das Dilemma Kuenstler und kommerzialisiertes Netz Mitte der 90er? Ist das ueberhaupt ein Dilemma?

EL: Ich sehe ein Involvieren von Wirtschaft nicht als Dilemma an. Ich glaube, dass Wirtschaft durchaus eine interessante Funktion innerhalb einer Gesellschaft einnehmen kann. Und fuer mich ist es ein interessantes Spiel- und Stoerfeld meiner Arbeiten: Das Wirtschaftsfeld, auf dem ich kuenstlerisch aktiv werden kann. Es ist ja immer auch eine schwierige Frage, denn in dem Moment, wo noch nichts ist, ist es schwierig, das ueberhaupt zu bezeichnen oder es sogar konkret als kuenstlerisch zu bezeichnen. Denn gleichermaßen koennte man ja auch behaupten, dass man ein Wirtschaftsunternehmen sei, wenn man sich in wirtschaftliche Stukturen einmischt. Zudem wird man ja auch von der steuergesetzgebenden Seite oder von der Finanzrechtssprechung in entsprechende Huellen reingesetzt. Schon als Kuenstlergemeinschaft bildet man, ohne dass man sich miteinander vereinbart hat oder wissend ist, eine GbR. Ich kann es manchmal gar nicht sagen, ob meine Arbeiten kuenstlerisch sind. Es hat grundsaetzlich oft mit Stoerfeldern und Kontroversen zu tun, aber auch mit neuen Perspektven und mit Kraftvollem. Und das es eben nicht die Idee der Wirtschaftsunternehmen hat, naemlich Geld zu verdienen.

BKB: Online-Strukturen. Von der Hardware - dem Rechner, der die Leben- und Arbeitsweise bestimmt - zur Software: Du bist der Meinung, dass Email-Kommunikation nicht nur eine weitere Kommunikationsform ist, sondern Veraenderungen innerhalb der Kommunikation schafft.

EL: Ganz extrem sogar. Ich habe mich vor zwei Jahren entschieden, mein handy abzugeben, um mich komplett auf diese Form der Kommunikation einzulassen. Ich fuehlte mich damals zu sehr ausgesetzt. Dann habe ich Kommunikation ueber Email und Fax betrieben. Herausgestellt hat sich, dass relativ wenige Leute ueberhaupt in der Lage sind, insofern sie erst kurz mit diesen Medien vertraut sind, ihre Gedanken, ihre Gefuehle, ihre Bewegungen in Worte zu fassen. Oft habe ich Emails in banalem Postkartenstil bekommen, und es findet nichts dabei statt.

BKB: Was kann es anderes sein als eine andere Kommunikationsform? Was sonst?

EL: Ich meine, dass es bei Online-Strukturen und insbesondere bei mail-Kommunikation nicht so sehr um den Anderen geht, sondern dass ich durch den Anderen sehr viel zu mir erfahre. Und dass mailen eine qualitative Auseinandersetzung mit sich selbst ermoeglicht: Wo sind meine Probleme in der Kommunikation? Wo stelle ich etwas in Aussicht, was ich nicht halten kann und auch regelmaeßig nicht halte? Wo betruege ich meine Mitmenschen um etwas? Das sind alles Sachen, die bei persoenlichen Kommunikationen - und vor allem bei Telefonkommunikation - hinten ueber fallen. Da geht es in der Regel um solche Dimensionen wie: Wer ist der Schnellste? Wer ist gedanklich flott? Wer ist der Lauteste? Wer schafft es mit Sympathie oder mit apartem Habitus, seine Interessen durchzusetzen. Das, was man in den 90er Jahren als Synonyme fuer Ellenbogengesellschaft charakterisiert hat.

BKB: Das heisst, Email-Kommunikation als ein Analyse-Instrument? Vornehmlich ein Selbstanalyse-Instrument?

EL: Ja.

BKB: Hat das was mit Nabelschau zu tun? Du sagst, dass Du durch die Kommunikation mit einem Anderen Auskuenfte zu Dir erhaeltst.

EL: Mir ist der Begriff nicht so gelaeufig und ich mag ihn auch nicht. Wenn ich mich mit mir selbst so auseinandergesetzt habe, dass ich das, was ich tue, auch vertreten kann, dann bin ich dazu in der Lage, den naechsten Schritt im Sandkasten zu machen. So mit zwei drei Jahren spielen Kinder ja nicht miteinander, sondern sie beginnen erst mit dreieinhalb bis vier Jahren mit sozialen Aktivitaeten, wie miteinander zu spielen, sich auszutauschen. Und das ist der Punkt, wozu e-mail fuehren koennte: Dass ich mich mit mir selbst auseinandersetze, vertretbares erkenne, wofuer ich auf der Welt geeignet bin und dann mittels dieser Kompetenzen und Nichtkompetenzen - es kann ja auch durchaus sein, dass sich auch Nichtkompetenzen als wuenschenswert herausstellen, um z.B. Stoerfelder in Gang zu setzen - dann das Miteinander in Gang setzen kann.

BKB: Windeljahre? Wann ist denn das Kind geboren? ;o)

EL: Vielleicht mit Marcel Duchamp. Vielleicht mit Marcel Duchamp. Vielleicht auch 68.

BKB: Ueber das Netz hat sich die Geschwindigkeit erhoeht: ein jahr in reality sind vier Internetjahre, so sagt man. Das heisst, das Kind waere bei Deinem zweiten Vorschlag 40 Jahre alt. 40 mal 4, dann waere das Kind 160 Jahre alt. ;o) Hat das Kind eigentlich Eltern?

EL: Ich glaube, das Kind sucht seine Eltern und es sucht nach Werten. Und es weiss nicht, auf wen es hoeren soll. Weil die Einfluesse vielstimmige sind und diejenigen, die sich als Eltern bezeichnen, sehr laut und sehr streng sind. Ausserdem haben sie ein unglaublich diffiziles Regelwerk aufgestellt, dass den Bewegungsspielraum des einzelnen mehr einschraenkt als bei einer Marionette. Und ich befuerchte, dass diese Bewegungsunfaehigkeit, oder anders, dass das Bewegungsbeduerfnis des einzelnen Menschen dazu fuehren wird, dass die Eltern abgeloest werden. Vielleicht kriegt man es hin, dass sie nicht enthauptet werden. Denn auch der Elternmord gehoert in die alte Zeit.

Noch ein Satz zu den Zahlen: Die alten Rechensysteme addieren: 1 und 1 ist zwei. Zwei und zwei sind vier. Drei und drei sind sechs. Netzwerke potenzieren hingegen, eine Potenzierung z.B. der einzelnen Netzwerkteilnehmer. Das Rechenexemple ist zur Zeit der New Economy nicht aufgegangen, weil man zu gierig und zu ungeduldig war. Man hat eigentlich nur die erste Potenz abgewartet. Und eins hoch eins ist weniger als das, was in der alten Oekonomie war. Eins hoch eins bleibt eins. Da macht die alte Oekonomie der neuen noch was vor. Da steht es zwei zu eins. Es veraendert sich, wenn man sich die zwei vornimmt. Aber interessant wird es, wenn ein Netzwerk bereits aus dreien besteht. Dann steht es zumindest 9 vielleicht sogar 27 zu sechs.
Ich habe eine richtige Netzwerkarbeit - auch im finanziellen Sinne effektiv - noch nicht kennengelernt. Ich kann aber sagen, dass ich eine unglaubliche Effizienz in einer sehr kleinen Zusammenarbeit kennengelernt habe. Insofern behaupte ich, dass Netzwerkueberlegungen das Potential der Zukunft sind, allerdings nicht wie zu Zeiten der Windeljahre betrieben, denn da verstand man Netzwerke wie die alte Oekonomie, als Seilschaften. Der Unterschied liegt darin, dass man zu Zeiten der alten Oekonomie loyal zu sein versuchte, ohne auf Kompetenzen zu schauen. Ich vergebe an jemanden einen Auftrag, obwohl derjenige im Vergleich zu jemand anderem schlechter ist, und mache gleich zwei Fehler: Ich schade demjenigen, dem ich den Job gebe, und ich schade demjenigen, der es besser koennte. Es ist immer eine schwierige Geschichte, weil der Loyalitaetsbegriff ein schwierig zu fassender ist. Auf der geheimrat-site gibt es einen Text, der es bisher am griffigsten fasst: Loyalitaet gegenueber der Situation in ihrer Komplexitaet. Das heisst, dass ich sowohl beruecksichtige, dass da jemand ist, der mir nahe steht und es eine gemeinsame Vergangenheit gibt, aber dass ich gleichwohl nicht unberuecksichtigt lasse, ob ich ihn womoeglich ueberfordere und ich meine Parteinahme zugunsten einer anderen Dimension - nennen wir sie z.B. Gerechtigkeit - zuruecknehmen sollte. Vielleicht ergeben sich ja daraus auch interessante Situationen oder Kooperationen: Setzt euch doch mal zusammen und macht es beide...

BKB: Einerseits sprichst Du vom Einzelnen, von dessen Kompetenzen und Nichtkompetenzen. Andererseits vom Aufgehen in einer Vielheit, z.B. innerhalb von Netzwerke...

EL: Die Vielheit muss nicht auf viele Personen bezogen sein. Vielheit kann auch Vielheit im Einzelnen bedeuten. Das Netz allein ermoeglicht schon, nicht nur eine einzige Identitaet zu haben. Man kann durchaus verschiedene Positionen einnehmen. Das Netz ermoeglicht im Gegensatz zur klassischen Gesellschaft, dass ich streitbarer Zeitgenosse fuer ein Unternehmen bin, an einer anderen Stelle Kuenstler, an der naechsten Stelle Vereinsvorsitzender.

BKB: Wie ist das kompatibel mit der realen Welt? Oder gibt es Streitigkeiten? Schwierigkeiten?

EL: Schwierigkeiten gibt es immer. Aber grundsaetzlich kann man auch sagen, die Grenzen sind immer im eigenen Kopf. Es ist immer wieder eine Riesen-Herausforderung, sich der Grenzen bewusst zu werden und sie zu ueberwinden. Ich weiss, dass da ganz viele Huerden stehen. Es ist auch eine Herausforderung, bestimmte Grenzen zu akzeptieren und sie erst irgendwann spaeter wegzuraeumen. Ich plaediere dabei nicht fuer die grundsaetzliche Aufloesung aller Grenzen.

BKB: Du sprachst von den Veraenderungen, die sich im Netz ergeben haben. Wie sind diese Veraenderungen verknuepfbar mit der realen Welt? Oder gibt es diese Unterscheidung nicht?

EL: Tja. ... Ich habe den Eindruck, dass meine Welt die Welt ist, die ich mir konstruiere, die fuer mich die reale Welt ist.

BKB: Was haeltst Du in dem Zusammenhang von solchen Aussagen wie z.B. die Welt weint, als eine Wahrnehmung des jetzigen Zustands der Welt. Weint Deine Welt auch?

EL: In meiner Welt ist Weinen eine Pflicht. Jeder Mensch sollte weinen. Haeufig weinen. Und gar nicht als ein Zustand einer bestimmten Phase oder Zeit. Trauer, Wut soll in Weinen muenden koennen. ...
Aussoehung koennte z.B. eine neue Dimension werden.

BKB: Ist Aussoehnen eigentlich etwas anderes als Versoehnen?

EL: Versoehnung hat, meine ich, etwas mit Glattschmieren zu tun. Und Aussoehnen ist naeher an Aussprechen und Auseinandersetzen. In der konkreten tagespolitischen Welt stellen sich ja gerade ganz interessante Themen: z.B. wird am Thema der bundesdeutschen Rentenversicherung ein Konflikt zwischen alter und junger Generation diskutiert. Und jetzt gleitet es auf eine Ebene, wo man sich sagt: So, jetzt haben wir es angesprochen und dann ist auch gut. Meine Position zu dem Thema ist eine sehr nuechterne: Nach Beendigung des Krieges hat es einen Vertrag gegeben, und die einzelnen Vertragsparteien waren nicht existenz. Ich glaube, dass es nicht damit getan ist, zu meinen, das haben wir nunmal so gemacht. Es geht nicht um ein Abschneiden von Verantwortung, aber es geht auch nicht um ein haltloses Aufbuerden von Verantwortung. Immerhin kann ein junge Generation behaupten: Dass, was wir jetzt haben, haben unsere Eltern geschaffen: Sowohl die Strukturiertheit, aber auch die Bewegungsunfaehigkeit. Aber es gibt da Punkte, die man genauer beleuchten koennte und muesste.

BKB: Du sprichst vom Generationenvertrag. Wenn Du ein politisches Amt haettest, was wuerdest Du veraendern?

EL: Ich habe in der letzten Zeit haeufiger darueber nachgedacht, ob ich grundsaetzlich ein Amt haben koennte. Und ich glaube, dass sich das in einer Demokratie ausschließen wuerde. Dafuer bin ich viel zu eckig und zu kantig. Ich bin kein Versoehner. Leute, die mit mir zu tun haben, finden moeglicherweise erst Jahre spaeter Frieden. Ich wuerde soviel ueber den Haufen schmeissen, ich wuerde z.B. endlich die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland schreiben, wie es durch die Vereinigung Auftrag wurde. Und zwar so, dass sie internationalen Maßstaeben genuegt, dass sich ein Christentum darin wiederfinden kann, eine islamische, eine buddhistische, eine hinduistische...

BKB: Du meinst, dass das nicht der Fall ist?

EL: Nein. Deutschland ist sehr provinziell und klein ausgebildet. In vielen Bereichen gibt es durchaus interessante Ueberlegungen, die in bestimmte Modelle uebertragen werden koennen. Ich habe vor einiger Zeit einen interessanten Prozess angestrengt - eine lapidare Geschichte wegen einer Abschleppaktion. Es kam zutage, das man Unterlagen von A nach B getragen hat und dass dies Monate dauerte. Ich meine, dass eine diffizile Struktur in die Tiefe durchaus Sinn machen kann. Das kann auch fuer eine Entscheidungsfindung bei Gericht sinnvoll sein. Sie kann es aber im Moment noch nicht, weil die alles tragende Vernetzung nicht stattfindet. Weil man vielleicht Angst hat wegen Datenschutz oder oder oder. Es ist eine schraege Mischung in Deutschland: man hat den deutschen Perfektionismus in das System selbst hineingetragen. Welcher Mensch kann schon ohne einen Steuerberater seine Steuererklaerung ausfuellen? Die Kosten fuer den Steuerberater werden aber nicht vom Staat uebernommen, die muss man zunaechst selbst tragen. Es entsteht eine Arbeit, die der Staat an der Stelle selbst produziert hat, die der Buerger zu zahlen hat. Fuer mich eine Betrugssituation.

BKB: Du argumentierst weniger historisch oder politisch, eher haeufig mit Angst haben, gierig sein, Du sprichst von Versoehnung, Aussoehnung. Was hat das mit dem Netz zu tun?

EL: Wenn ich von einem Prozess der Auseinandersetzung durch das Netz angestoßen spreche - ohne Frage... Und dann werfe ich den Blick und gucke, wie ist denn um mich herum der Stand der Auseinandersetzung. So wird in den Sitcoms ein interessanter Spiegel der Gesellschaft geboten. Das hat mit Auseinandersetzung gar nichts zu tun. Es wird immer umgelenkt. ...



To be continued...

2002-12-17